GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023 GASTLAND ÖSTERREICH LEIPZIGER BUCHMESSE 27. BIS 30. APRIL 2023

Archive des Schreibens: Daniel Wisser

Er zählt zu den originellsten Autoren Österreichs: In seinen Bestsellern kombiniert Daniel Wisser Gesellschaftskritik, launige Beziehungskisten und dramaturgische Kniffe. Ging es im Buchpreis-prämierten Roman „Königin der Berge“ um den Tod, folgt nun die Wiederauferstehung. Sein neues Buch „0 1 2“ handelt von einem, der ein zweites Leben geschenkt bekommt. Ein Porträt eines Autors zwischen Schmäh und Haltung.

30 Jahre lang lag er im Eis, eingefroren dank modernster Kryotechnik. Doch die Rechnungen werden seiner Familie zu teuer, also wird Erik Montelius im Jahr 2021 wieder aufgetaut, mitten in der Pandemie. Die Sensation, weltweit erster Wiederauferstandener zu sein, birgt für Wissers Romanhelden wenig Erbauliches. Seine Frau ist mittlerweile 70 und mit seinem früheren Geschäftspartner verheiratet, dieser hat aus den Forschungsergebnissen des früheren Informatikers gutes Geld gemacht.

Erik versteht nicht, warum sein Wertekompass aus den 1990er Jahren plötzlich ausgesetzt scheint. Was soll dieses dauernde Herumwischen auf tragbaren Computern, warum tragen alle seltsame Masken im Gesicht? Warum verstopfen lauter SUVs, die immer noch mit Verbrennungsmotoren fahren und die noch dazu „sportlich“ genannt werden, die Straßen? Und warum eigentlich diese Rollkragenpullis unter dem Sakko? Für Wisser, der laut Eigenbeschreibung „mit Stolz den Titel Kulturpessimist“ trägt, ist die Figur des Wiedergeborenen ein gefundenes Fressen, um frech und unverblümt die Verwerfungen der Gegenwart zu kommentieren.

Wisser, geboren 1971 in Klagenfurt und in Wien lebend, ist schon länger dafür bekannt, in seinen Romanen mit leichter Hand harte Gesellschaftskritik zu betreiben: Sein bisher erfolgreichster Roman „Königin der Berge“ (2018) erzählte anhand eines an Multipler Sklerose erkrankten Mannes, wie unsere Gesellschaft mit dem Tod umgeht.

Kritiker lobten damals den „verblüffenden Mix“ aus Humor und Todesernst, Wisser erhielt den Österreichischen Buchpreis 2018. „Ich habe lange die Geschichte mit mir herumgetragen, bis ich die Form gefunden habe, wie ich darüber erzählen kann“, so Wisser über seinen Roman, dem die Bekanntschaft mit einem MS-Patienten zugrunde lag.

Auf die Marke „leichtfüßiges Anfassen ernster Themen“ will sich der Autor aber nicht festlegen lassen. „Man muss immer gegen die Kategorisierungen kämpfen“, so Wisser im „Archive des Schreibens“-Gespräch, „sonst ergibt sich eine Linie, die man nie wieder brechen kann“. Und tatsächlich sind Vielfalt und Vielgestaltigkeit in seinem Schaffen großgeschrieben: Der studierte Germanist kommt von der experimentellen Literatur, sein erster Roman „Dopplergasse Acht“ trug im Untertitel „in 45 Strophen“. Als Jugendlicher sei er, wie Wisser in einem Interview sagte, nur an Gedichten interessiert gewesen – und zwar querbeet, vom Barock bis zur konkreten Poesie.

Einer breiten Öffentlichkeit wurde Wisser im Jahr 2017 bekannt, als er als erster Kandidat bei Armin Assingers „Millionenshow“ 300.000 Euro gewann. Literarisch Interessierte kennen ihn aber schon seit 2011, als er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilnahm. Aus dem vorgetragenen Text wurde sein Roman „Standby“ (2011), der sich dem Innenleben eines Callcenter-Abteilungsleiters annäherte. Die Absurditäten der ganz alltäglichen Arbeitswelt waren auch Thema im Folgeroman „Ein weißer Elefant“, der sich um einen Arbeitenden drehte, dem sein Tätigkeitsfeld entzogen wird – von Wisser eingefangen mit kunstvoll-absurden Monologen, die viele an Thomas Bernhard erinnerten.

Zu den wichtigen literarischen Bezugspunkten zählen für Wisser Peter Handke, Ror Wolf und der 2010 verstorbene Autor Andreas Okopenko, um dessen Gedenken sich Wisser bemüht. Von Ernst Jandls konkreter Poesie wiederum hat er sein Faible für Sprachreflexion, was nicht zuletzt auch in seinen literarisch breitenwirksameren Romanen durchklingt – und in seiner Musik: Wisser ist Mitbegründer des Ersten Wiener Heimorgelorchesters, das mit Billigstkeyboards kratzig-knallige Hymnen kreiert und etwa mit dem Buchstabenspielerei-Song „die letten werden die esten sein“ einen Hit landete.

Was Wissers Bücher motivisch eint, ist, dass die Figuren stets mit einem Bein am Abgrund stehen oder gesellschaftliche Tabus ausreizen. In seinem Familien- und Sozialdemokratieroman „Wir bleiben noch“ von 2021 schickte er etwa den Mid-Ager-Protagonisten Victor in ein Liebesverhältnis mit dessen Cousine. Was familienintern für viel Entgeisterung und weitere politische Verwerfung sorgt, führt bei den Frischverliebten zu einer Flut von Emojis und Chatverläufen, die Wisser genau so in das Buch gepackt hat.

Das ist amüsanter Kulturpessimismus mit Handyhass (trotz exzessiven Gebrauchs!) – der Bogen zu „0 1 2“ ist da nicht mehr weit. Wobei „0 1 2“ ein klassischer Schelmenroman ist, der – in Dialog mit einer Ghostwriterin formuliert – als Autobiografie daherkommt, manchmal böse, oft komisch, immer sprühend vor Ideenreichtum.

Erik, der sich mit frecher Scheiß-drauf-Mentalität schon im ersten Leben nicht immer beliebt gemacht hat, stolpert als „freies Radikal“ vom Gästezimmer seiner alten Wohnung in ein Liebesverhältnis mit der Tochter seines Ex-Partners und – weil ohne Dokumente – schließlich in eine Asylunterkunft. Und die dramaturgisch klug gestrickte Geschichte hat sogar noch einen Krimistrang parat: Wäre Eriks Tod vielleicht doch vermeidbar gewesen? Und warum brennen plötzlich die Autos in der unmittelbaren Umgebung?

„Ich finde es nicht verwerflich, wenn ein Schriftsteller zu einem aktuellen Thema seine Meinung sagt“, so Wisser im „Archive des Schreibens“-Gespräch. Weder die Figuren in seinen Romanen noch Wisser selbst als politischer Kommentator nehmen sich dabei ein Blatt vor den Mund. Eine Zeit lang schrieb der Autor auch regelmäßig für das Nachrichtenportal Zackzack.at von Peter Pilz, immer wieder für „Standard“ und „Profil“. Eine Auswahl dieser kritischen Parteinahmen erschien letztes Jahr in Buchform: „Tausend kleine Traurigkeiten“ (bahoe books).

Das Projekt „Archive des Schreibens“
„Archive des Schreibens“ ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem ORF und dem Gastlandprojekt Österreich bei der Leipziger Buchmesse 2023. TV, Online und Radio präsentieren gemeinsam die neue Generation des Schreibens in Österreich. Die Autorinnen und Autoren sprechen dabei über sich selbst, ohne dass jemand ihre Arbeit von außen kommentiert. Bis zum Österreich-Schwerpunkt bei der Leipziger Buchmesse 2023 sollen zahlreiche Porträts des neuen Schreibens entstehen und darüber hinaus weiter produziert werden.

Hier geht’s zum Video.

Text: Paula Pfoser, Alice Pfitzner